Rede bei der Feier zum Gedenken an Heinrich von Stietencron
am 19. Januar 2018
in der Alten Aula Tübingen

von

Alois Payer


Gestatten Sie bitte, dass ich als ältester Schüler Henrys wenige Worte an Sie richte.

Aniccā vata sankhārā.
Uppāda-vaya-dhammino.
Uppajjitv' eva nirujjhanti.
Tesaṁ vūpasamo sukham.
 

"Unbeständig ist alles bedingt Entstandene,
Es unterliegt dem Gesetz von Entstehen und Vergehen.
Kaum entstanden, vergeht es.
Sein Zur-Ruhekommen ist Glück."

Dieser zentrale Vers des Totenrituals der Buddhisten Sri Lankas, Myanmars, Thailands, Kambodschas und Laos trifft voll auf Henry zu. Es war für ihn ein Glück, dass ihm weiteres Leiden erspart blieb.

Als Henry 1973 nach Tübingen kam, waren wir Tübinger Indologen wenig begeistert. Wir waren 100%ig überzeugt, dass die einzig richtige Form der Indologie die unseres vergötterten Lehrers Paul Thieme ist. Henry stand auf der Berufungsliste an dritter Stelle. An den ersten beiden Stellen standen Thieme-Schüler. Henry hatte man auf die Liste gesetzt, damit die Liste nicht allzu manipuliert aussieht. Und nun kam ausgerechnet Henry. Aus Heidelberg. Wo wir Tübinger Indologen doch auf das Heidelberger Südasieninstitut voll Verachtung hinabschauten.

Ich muss gestehen, dass ich Henry spüren ließ, dass ich über seine Berufung enttäuscht war. Der erste positive Eindruck, den ich von ihm bekam, war, dass er nicht darauf achtete, dass ich ihn nicht mochte. Statt dessen achtete er allein auf meine Begabung und Leistung. Beides förderte er von Anfang an. Damit war mein Herz geöffnet und ich konnte von ihm lernen. Er weitete unseren indologischen Horizont: indische Geschichte, Politik, gelebte Religion, Kunst kamen in unser Gesichtsfeld. Er betrachtete das lebendige Indien mit großer Kenntnis und Empathie. Er sah in den Hindumythen nicht kurioses Material für philologische Fingerübungen, sondern versuchte diese so zu verstehen, wie gläubige Hindus sie verstehen. Er lehrte uns, Indien nicht als Einheitsbrei zu sehen, sondern regional und sozial zu differenzieren. Er kannte Orissa besser als Deutschland. All dies weitete unsere Vorstellung von den Aufgaben eines Indologen sehr. Auch wenn ich in vielem ganz anderer Meinung war und bin als Henry es war, gehört er zu den Leitsternen, an denen ich mich bis heute orientiere.

Es ist Henry mit seiner ausgleichenden Art gelungen, ein sehr gutes Verhältnis zu seinem Vorgänger Paul Thieme aufzubauen. Er integrierte diesen ganz in den Lehrbetrieb. Dass ich als manchmal einziger Student zwei Ordinarien mit vollem Lehrdeputat hatte, war zwar ungeheuer anstrengend, aber unschätzbar wertvoll.

Henry baute das Institut für uns Studierende so aus, dass wir wirklich unter einmalig idealen Bedingungen studieren und arbeiten konnten. Er hinterließ seinem Nachfolger ein bestens ausgestattetes Institut. Dies gelang Henry, weil er immer ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Fakultätskollegen und zur Universitätsleitung hatte. Sein gewinnendes Wesen kam voll zum Tragen.

Wegen dieses seines Wesens sind Henry und ich gute Freunde geworden. Er war mir immer dankbar, wenn ich ihn - oft sehr kritisch - unterstützte. Ich habe mit ihm einen echten Freund verloren.

Henry lebte in seinem Indien. Noch, als sich schon die Altersdemenz bemerkbar machte, hat er eine Zürcher Doktorandin mit Verständnis, Rat und Information unterstützt. Sie - eine Inderin der zweiten Generation - war von seinen Kenntnissen beeindruckt.

Henry war wie wir alle „ein sterblicher und sündiger Mensch“, wie es im Totenritual für den Kaiser des Habsburgerreichs heißt.

Wir sollten ihm dankbar sein für alles Liebe und Gute, das er uns geschenkt hat. Wir sollten ihm verzeihen, wenn er uns verletzt hat. Danke!